
ICA MOSCOW
1993 brachte uns Katrin Becker nach Moskau, wo sie unsere Einzelausstellung im CAC Contemporary Art Center Moscow bei Victor Misiano kuratierte. Gezeigt wurden unsere KUNSTKONSUMENTEN PROFILE – Gemälde nach Vorlagen sozialistischer Fotobücher, die nach dem Mauerfall in Berlin massenhaft auf dem Müll gelandet waren.
Moskau funktionierte nach Regeln, die uns fremd waren und die wir erst dechiffrieren mussten. Selbst ein Brot beim Bäcker zu kaufen war eine Angelegenheit, die ohne ein Wissen um die Mechanismen in der postsozialistischen Stadt unmöglich war. Das faszinierte uns dermaßen, dass wir uns für das achtmonatige Auslandsstipendium des Berliner Senats bewarben. Vorbereitet durch die Berichte unserer Vorgängerin Ute Weiß Leder und die Lektüre von Nikolay Chernyshevsky „Was tun?“ waren wir auf alles gefasst.
Als wir im Oktober 1995 nach Moskau kamen, befand sich Russland in einer Phase politischer und gesellschaftlicher Umbrüche. Boris Jelzin regierte ein Land, das sich noch immer im Schock der Post-Sowjet-Transformation befand. Die staatlichen Strukturen waren geschwächt, politische Lager zersplittert, und im Vorfeld der Duma-Wahlen und des ersten Tschetschenienkriegs herrschte eine spürbare Nervosität.
In der Stadt selbst mischten sich wirtschaftliche Not und wilde Privatisierungsprozesse. Neue Eliten entstanden und beanspruchten auch ihren Platz in der Kunstszene. Gleichzeitig waren die Folgen der Inflation, Arbeitslosigkeit und Armut überall sichtbar. Vor den Metro-Stationen bildeten sich wilde Märkte, wo Babuschkas getrocknete Pilzketten verkauften, ein rohes Stück Rinderfleisch auf dem Unterarm feilboten, ein Paar Feinstrumpfhosen oder auch nur bunt bedruckte Plastiktüten, während Oligarchenlimousinen in zweiter Reihe vor den wenigen neueröffneten Supermärkten hielten. Alte Sicherheiten galten nicht mehr und auf neue Regeln hatte man sich noch nicht geeinigt.

Kreuzung an unserer Metro Station Ulitsa 1905 Goda
Unser Gastgeber war das Institute of Contemporary Art ICA, das 1992 von Joseph Backstein gegründet worden war – ein Refugium der unangepassten zeitgenössischen Kunst innerhalb einer von offizieller Staatskunst dominierten Szene. Das ICA war im Atelier Ilya Kabakovs untergebracht, der vor seiner Emigration in die USA als Mitglied im russischen Künstlerverband das Privileg eines der staatlichen Ateliers genossen hatte, die in den Dachgeschossen der gutbürgerlichen Wohnhäuser der Innenstadt untergebracht waren. Nun sah sich das ICA mit den Begehrlichkeiten der Immobilien-Mafia konfrontiert, die sich die Räume unter den Nagel reißen wollte. Um eine Besetzung zu verhindern, war ein kräftiger junger Künstler permanent dort einquartiert worden und schob Wache.
Das Leben zwischen sozialistischen Überbleibseln, Experimentiergeist, Prekarität und die Herausforderung, jeden Tag unseren Weg aufs neue zu suchen, prägten das Grundgefühl unserer Residency. Von Tag eins an führten wir ein Tagebuch um diese Überforderung festzuhalten.
Aus unseren Beobachtungen der Situation entwickelten wir das SUBSTITUTE OF CONTEMPORARY ART.

Performance "Missionary" von Oleg Kulik

Das ICA Moscow im ehemaligen Atelier von Ilja Kabakhov

Kabakhovs Nachbar vor seiner Auftragsarbeit für den Ministerpräsidenten Tschernomyrdin